Schülerinnen und Schüler wollen nicht verwöhnt werden

Erziehungswissenschaftler Jürg Rüedi erklärt, wie Lehrer eine gute Lernatmosphäre schaffen können.

Mit Jürg Rüedi
sprach Daniel Schneebeli


Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Disziplin in der Schule. Waren Sie selber ein gehorsamer Schüler? In der Primarschule war ich eher ein braver Schüler. Hie und da haben wir die Praktikanten provoziert. Aber das war verglichen mit heutigen Massstäben wahrscheinlich harmlos.

Warum provozieren Schülerinnen und Schüler ihre Lehrer? Sie probieren aus, wie weit sie gehen können, und sie wollen sich in der Gruppe zur Geltung bringen. Sie versuchen, frech oder clever zu sein. Ein Stück weit gehören Provokationen auch unter Erwachsenen zum Alltag.

Unter Disziplin versteht man unbedingten Gehorsam. Passt das nicht eher zum Militär als zur Schule? Es kommt darauf an, wie man den Begriff definiert. Unbedingter Gehorsam war vor 100 Jahren in der Schule üblich. Aber nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ist diese Definition nicht mehr angebracht. Vor allem deutsche Erziehungswissenschaftler verzichten bewusst auf den Begriff, weil er diese Assoziationen von Gehorsam weckt. Ich finde, dass sich die Wissenschaft mit dem Begriff Disziplin beschäftigen sollte, weil er auch in der Schule gängig ist.

Warum beschäftigen Sie sich persönlich so intensiv damit? Es ist die berufliche Notwendigkeit als Pädagogiklehrer. Für junge Lehrerinnen und Lehrer ist mangelnde Disziplin im Schulzimmer ein grosses Problem. Sie müssen in ihren Klassen eine Führungsrolle einnehmen, in die sie noch hineinwachsen müssen. Zudem war ich unzufrieden mit den Lehrbüchern zum Thema. Entweder waren sie zu wenig aktuell oder nur auf Deutschland bezogen. Es fehlten Bücher, die mit Beispielen aus der Schweiz argumentierten.

Wird das Thema in der Lehrerbildung vernachlässigt? Eine Zeit lang war das wahrscheinlich so. Nach 1968 wurden Begriffe wie Disziplin, Pflichterfüllung, Strafe auch in der Pädagogik gemieden. Dann hat man gesehen, dass es ohne Lenkung, ohne Disziplin in der Erziehung nicht geht. Der Slogan «Grenzen setzen» breitete sich aus.

Heute schlägt das Pendel noch weiter in diese Richtung aus. In der Vimentis-Umfrage 2010 haben 80 Prozent der Schweizer mehr Disziplin in der Schule gewünscht. Warum ist dieser Ruf so stark?

Es ist offensichtlich ein allgemeines Unwohlsein in der komplexen Welt vorhanden. Wer heute nach mehr Ordnung ruft, hat die grosse Mehrheit hinter sich. Ich finde diesen undifferenzierten Ruf aber gefährlich, darum habe ich mein neues Buch auch mit «Wie viel und welche Disziplin braucht die Schule?» betitelt. Die Disziplin der Vergangenheit hilft uns nicht weiter.

Sie empfehlen ein antinomisches Verständnis von Disziplin und von Klassenführung. Was ist das? Wörtlich heisst «antinomisch» der Widerspruch des Gesetzes mit sich selber. Es braucht Disziplin in der Schule. Aber wenn Lehrpersonen auf nichts anderem bestehen, wird aus Disziplin Tyrannei. Ein Lehrer muss eine gewisse Sicherheit ausstrahlen, aber auch einmal einen Spass ertragen. Er sollte Humor haben. Schülerinnen und Schüler wollen nicht verwöhnt werden. Sie wollen einen Lehrer mit einer Linie. Christiane F. («Wir Kinder vom Bahnhof Zoo») schildert einen älteren Lehrer, den sie gut fand, weil er wusste, was er wollte.

Können nur lustige Lehrer Ordnung haben im Klassenzimmer? Die Forschung sagt, dass es viele Arten gibt, eine gute Lehrperson zu sein. Menschen sind verschieden, das spüren Schülerinnen und Schüler. Sie können darum auch ernstere Lehrpersonen akzeptieren. Wichtig ist, dass ein Lehrer authentisch ist. Aber sicher ist Humor hilfreich in schwierigen Situationen. Wenn man hie und da lachen kann, entsteht eine entspannte Atmosphäre, was für das Lernen förderlich ist. Das sagt auch die Hirnforschung. Humor ist also ein geschicktes Führungsinstrument.

Was empfehlen Sie einem Lehrer, der dieses Instrument nicht hat? Er soll nicht Unmögliches von sich verlangen, aber es lohnt sich für uns alle, sich mit Humor auseinanderzusetzen. Ich sage jeweils zu meinen Studierenden: Humor ist die einzig vertretbare Lebenseinstellung. Auch Komödien oder Cabarets tun uns gut.

Kann man Humor lernen? Vielleicht nicht so, wie man Französisch oder Schreibmaschinenschreiben lernen kann. Aber Humor fördert unsere Gesundheit.

Wie haben Sie selber gelernt, humorvoll zu sein? Ich war ein genauer Lehrer und habe mich zum Beispiel sehr geärgert über Studierende, die zu spät kamen. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass dieser Ärger niemandem etwas bringt. Ich habe eingesehen, dass es noch anderes gibt als mein Fach, was meine Studierenden beschäftigt. Wir Menschen sind Staubkörner im Kosmos.

Wie schlimm ist es mit der  Disziplinlosigkeit in der Schule? Wenn man in der Zeitung liest von der «Horrorklasse im Schulhaus Borrweg», die reihenweise Lehrer verheizt, ist das schlimm. Aber wir dürfen nicht den Notstand ausrufen wegen eines Einzelfalls. Ich bin sehr viel auf Schulbesuch, und da treffe ich fast immer auf diszipliniert lernende Klassen. Aber die Atmosphäre in einer Klasse hängt stark von der Lehrperson und ihrer Führung ab. Früher konnte ein Lehrer mit Drohungen arbeiten. Man hat den Studierenden im Seminar damals sogar gesagt: «Dem Ersten, der aufmuckt, gehört eins hinter die Löffel.» Man hat also den Lehrern offiziell empfohlen, ein kleines Terrorsystem zu errichten. Das geht heute nicht mehr. Körperstrafen sind in der Schweizer Schule von 2012 verboten.

Wäre es denn besser, Körperstrafen wieder zuzulassen? Keinesfalls. Dass man heute nicht mehr wie vor 50 Jahren mit Angst und Einschüchterung arbeitet, hat die Schule humaner gemacht.

Durch diese Humanisierung seien die Jugendlichen respektloser geworden, sagen viele. Machen Sie diese Erfahrung nicht? Die Kinder getrauen sich heute mehr aufzumucken, das stimmt. Manchmal vergreifen sich Jugendliche im Ton. Aber generell könnte ich nicht sagen, dass die Jugendlichen respektloser sind. Das beweist auch die Schweizer Langzeitstudie Cocon (siehe Text oben).

Was sollen Lehrerinnen und Lehrer tun, die merken, dass sie ihre Klassen nicht in den Griff bekommen und ausbrennen? Sie müssen nach den Ursachen suchen. Vielleicht ist ein Lehrer zu wenig klar oder zu lieb. Persönliche Probleme können dazukommen.

Wie kann das ein Lehrer selber herausfinden, wenn er mitten im Chaos steckt? Das kann schwierig sein. Es ist wie mit der stickigen Luft in einem Zimmer. Wenn man von aussen hineinkommt, haut es einen fast um. Aber wenn man schon lange drin ist, merkt man es kaum. Darum ist eine Aussensicht wichtig. Die kann ein Freund abgeben, eine Beraterin oder auch der Schulleiter.

Wie sollen Lehrer strafen, wenn die Schüler Regeln brechen? Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Untersuchungen zeigen, dass die einen Lehrpersonen ihre Schüler strafen und andere nicht. Sicher ist, dass man auf Regelverstösse reagieren muss. Man kann nicht immer wegschauen: Wer schweigt, scheint zuzustimmen. Aber beim Strafen braucht es viel Fingerspitzengefühl. Der Lehrer sollte die Situationen blitzschnell beurteilen. Was ist passiert? Wer wars? Manchmal genügt eine energische Zurechtweisung, vielleicht ist auch ein Gespräch nach der Schule nötig. Voraussetzung, dass eine Strafe wirkt, ist aber eine gute Beziehung zwischen Schüler und Lehrer.

Was halten Sie von den traditionellen Schulstrafen wie Strafaufgaben oder vom Verweis vor die Tür? Ich bin skeptisch. Oft bringt das nichts.

Warum nicht? Wenn ein Lehrer einen störenden Schüler hinausschickt, kann der nicht mehr stören. Meist geht das ja nicht ohne Begleitgeräusche. Vielleicht ruft ein anderer: Darf ich auch mit? Zudem muss der Lehrperson bewusst sein, dass sie die Aufsichtspflicht auch hat, wenn der Schüler vor der Tür steht. Bei dem Bestraften setzt eine solche Strafe nur selten einen Lernprozess in Gang. Meist findet er den Lehrer einfach ungerecht. Allerdings gibt es auch Lehrer, die gute Erfahrungen machen mit «ihren» Strafen. Vielleicht weil sie von der Klasse als Zeichen gedeutet werden, dass der Lehrer die Lage wieder im Griff hat. Manchmal muss sich die Lehrperson durchsetzen. Punkt. Die Strafe darf aber nicht willkürlich sein oder aus heiterem Himmel kommen.

Was sagen Sie zur Kollektivstrafe? Etwa im Turnen, wenn der Lehrer sagt: Es ist zu laut, wir gehen ins Zimmer und machen Französisch. Das ist heikel und verboten, da Strafe ein individuelles Verschulden sanktioniert. Die Kollektivstrafe ist ungerecht, da immer Unbeteiligte bestraft werden. Zudem ist es nicht geschickt, ein Schulfach für eine Strafe zu missbrauchen. Französisch wird so sicher nicht beliebter.

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