Sabine Weissen ist die Lehrerin von Lukas. Er geht zu ihr in die zweite Klasse. Sie hat mit ihm eine interessante Erfahrung gemacht. Lukas hat bisher in seinem Leben, so schildert sie, „vor allem gewaltvolle Kommunikation erfahren ... in Form von Prügeln, Beschimpfungen und Drohungen. In der Schule kannte er ebenfalls eine raue Sprache und wiederholte Strafen. Da ein autoritär-strafender Stil nicht zu mir passt, musste ich einen anderen Weg suchen. Ich beobachtete ihn sehr genau und hatte so meine Vermutungen, weshalb er immer wieder stört und negative Aufmerksamkeit auf sich zieht".
Hier zeigt sich wieder einmal die Bedeutung des ruhigen Beobachtens, ohne voreiliges Aussprechen dessen, was der Lehrerin durch den Kopf geht. Sabine Weissen sammelt Hypothesen, ohne sich mit einer einzigen, mit einem „Tunnelblick" (Lohmann 2003, S. 29) zu begnügen. Oft sprechen Lehrpersonen – darauf weist die LCH-Studie von 1998 hin – zu rasch und zu viel: Die Sofortmassnahme «Ermahnen» wird in der Schule sehr häufig angewandt, ohne dass sie von den betreffenden Lehrpersonen als vergleichbar wirksam eingeschätzt würde. Sabine Weissen ermahnte nicht sofort, sondern entwickelte ihre Vermutungen. Sie tat das, was die reflektierende Praktikerin tut: die Voraussetzungen für die erfolgreiche Analyse, für die erfolgreiche Diagnose schaffen. Auf welche Vermutungen war Sabine Weissen gekommen?
Sie antwortete: „Zum einen zeigt Lukas viele Symptome von ADHS: Probleme mit Lehrerwechsel, unruhig und nicht fähig, seine Konzentration auf Lerninhalte zu richten – ausser Computer! –, sehr leicht ablenkbar, schwache Selbststeuerung, sehr neugierig bei eigenem Interesse, abwehrend und oppositionell bei Druck von aussen, im Sozialverhalten so ungeschickt, dass ihn keiner mag: zickeln, auslachen, nachäffen, ärgern, blossstellen. Im Einstecken ist er jedoch sehr empfindlich, kann im Kreis kaum warten und wird wütend, wenn er nicht an die Reihe kommt. Zum anderen hatte er durch sein unkonzentriertes Verhalten viele Lücken, die er zu verstecken versuchte, entweder durch Stören oder durch herzerweichende Hilflosigkeit. Ich teilte ihm in einem ruhigen Moment meine Beobachtungen mit und sprach seine – wie ich vermutete – Gefühle aus, denn er selber konnte das nicht".
Ein sehr interessanter Schritt im gesamten Prozess: Indem Sabine Weissen mögliche Gefühle von Lukas in Worte fasste, half sie ihm bei der Erweiterung seiner Selbsterkenntnis, seiner Selbstkompetenz, indem er lernte, sein Innenleben genauer zu beobachten und Emotionen zu benennen, was er selber ja nicht konnte. Was sagte sie ihm genau?
Sabine Weissen: „Zum Beispiel, dass er sich oft ausgeschlossen fühlt und so versucht, die anderen zum Lachen zu bringen, um in den Mittelpunkt zu kommen. Oder dass er seine alte Lehrerin vermisst; oder dass er denkt, er sei dumm und darum mag ihn keiner; oder dass er immer wissen muss, was die anderen machen, weil er Angst hat, sie machen sich eventuell wieder über ihn lustig; oder dass er auch einmal etwas besonders gut machen will und dabei oft missverstanden wird, weil er sich vordrängt oder dabei nicht mehr auf die anderen achtet. Dieses Gefühl des Gesehen- und Verstanden-Werdens, anstatt Schimpfen und ‚Aber du machst...- Botschaften' löste in ihm eine Kommunikationsbereitschaft aus, allerdings noch nicht verbal".
Hier zeigen sich bereits die ersten Früchte des pädagogischen Vorgehens: Lukas fühlt sich von seiner Lehrerin verstanden und erfasst, ohne dass er durch voreilige Ermahnungen in die Enge getrieben worden wäre. Mit den Worten Neills empfindet er, dass Frau Weissen „auf seiner Seite" ist. Die Beziehungsbildung ist geglückt. Lukas hat Vertrauen in seine Lehrerin gewonnen, der Boden für die weitere Entwicklung ist gelegt 1. Welche Veränderungen stellte Frau Weissen genau fest?
Sabine Weissen antwortete: „Immerhin hörte er nun die Klagen der anderen gegen ihn an und hielt sich nicht demonstrativ die Ohren zu. Und das war ein wichtiger Schritt, denn die restliche Klasse brauchte ein Zeichen der Mitarbeit von ihm, um an eine Besserung zu glauben. Schliesslich fühlten sie sich sehr von ihm gestört. Als im Kreis aber die ersten positiven Rückmeldungen kamen, fing er wieder an zu kommunizieren und entschuldigte sich sogar. Meine Haltung in der Sache war, den Kindern einen Weg zu zeigen, wie sie sich aus einer verfahrenen Situation wieder befreien können. Dafür müssen alle einen Schritt machen, daran glauben und wieder offen sein für eine gute Lösung. Sätze wie ‚Dä isch/macht/het immer ...' werden nicht mehr toleriert, denn in jedem Moment kann ein Richtungswechsel vorgenommen werden".
Jetzt wird die Perspektive erweitert. Die gesamte Klasse wird einbezogen: Diese spürte die wohlwollend-konstruktive Haltung ihrer Lehrerin gegenüber Lukas. S. Weissen suchte immer einen Ausweg, ohne Anklagen wie „Lukas macht immer ..." recht zu geben. Die Lehrerin wird somit zum Modell (Bandura) für die ganze Klasse: Kein Kind wird abgeschrieben oder für hoffnungslos erklärt. Sie praktiziert einen „autoritativen Erziehungsstil", welcher lenkt, aber die Gefahren eines autoritären Erziehungsstils vermeidet.
Sabine Weissen fuhr weiter: Eine Prüfung kam, als ein Kind aus der Klasse mich aus der Pause holte und entsetzt ausrief, dass besagter Junge mit einem grossen Stecken auf alle losginge. Die Kinder erwarteten von mir, dass ich ihn ausschimpfe und hart bestrafe. Ich holte ihn ins Klassenzimmer, erklärte ihm zuerst, dass ich sein Verhalten nicht dulde, und fragte ihn dann, was ihn dazu trieb. Er wurde wieder bockig und hielt sich die Ohren zu. Ich wartete, weil ich wusste, dass er nicht lange stillhalten kann. Ich sagte, dass ich Zeit habe und ihn nicht gehen liesse, bevor wir sein Verhalten besprochen hätten. Ich fragte ihn erneut. Er schaute auf den Boden und sagte, er wisse es nicht. Nach einer Weile meinte er, die anderen hätten ihn gejagt. Ich ging darauf ein und stellte behutsam Fragen wie: Haben dich alle gejagt? Haben sie dir etwas nachgesagt? Hat das mit einem bestimmten Kind angefangen? Am Schluss kam heraus, dass die anderen sich zusammentaten und ihn hänselten. Da ging er auf ein Mädchen los und die anderen kamen ihr zu Hilfe, bis er schliesslich davonrannte und alle anderen ihm nach. Er hat sich bedroht gefühlt".
Sabine Weissen unterschied Tat und Täter, billigte die Tat nicht, respektierte jedoch den Täter als Person. Geduldig fragte sie nach der Motivation, die Lukas zum Schlagen getrieben hatte. Schrittweise erfuhr sie so die Wahrheit, das aggressive Verhalten entpuppte sich als Notwehr, als Reaktion auf die Hänselei. Hier bestätigte sich die frühe Aggressions-Frustrations-Hypothese von Dollard und Miller: Aggression ist oft die Reaktion auf Frustration.
Sabine Weissen: „Die Kommunikation war nun wieder im Fluss und die Beziehung wieder hergestellt. Ich zeigte wieder Verständnis für seine Gefühle, nahm ihn ernst. Das hat einen Boden geschaffen für den nächsten Schritt: Stärkung seiner sozialen Kompetenzen. So nahm ich ihn bei den meisten Vorkommnissen zur Seite und erklärte ihm, weshalb der Konflikt entstanden war. Der oder die Beteiligten, selten auch die ganze Klasse, waren natürlich auch dabei. Durch das offene Aussprechen merkten alle, dass sie mit ihren Gefühlen nicht alleine waren, und getrauten sich immer mehr, über ihre Gefühle zu sprechen, was wiederum die Einsicht und die Fähigkeit, Konflikte selber zu lösen, förderte".
Jetzt zeigt sich schön, dass die Stärkung der sozialen Kompetenz einerseits Lukas, im Endeffekt aber der ganzen Klasse zugute kommt. Wenn sich die Lehrperson in einen Kampf mit einem einzelnen Kind verwickelt, verwickeln lässt, kann sie diesem nicht helfen, zugleich wird aber der gesamten Klasse der Weg zum Verständnis des so genannt „schwierigen" Kindes verbaut. In einer konfliktbelasteten Atmosphäre kann niemand offen über seine Gefühle sprechen. In der Klasse von Sabine Weissen entstand jedoch eine Stimmung der Offenheit, welche ermöglichte, dass alle Kinder über ihr Innenleben berichten konnten. So legte die Lehrerin durch ihr eigenes verständnisvolles Verhalten die Grundlage für gegenseitiges Verständnis zwischen allen Mitgliedern der Klasse.
Sabine Weissen: „Mittlerweile ist der Junge wieder gut integriert in der Klasse – zwar noch ‚verhaltensoriginell', aber nur noch gering störend und recht gut zu leiten. Er kann sogar langsam seine Gefühle äussern, ohne zu provozieren. Er kann auch mal zugeben, dass er einen Fehler gemacht oder etwas nicht verstanden hat, und er erkennt nun besser den Zeitpunkt, wo er aufhören muss, wenn er keinen Ärger will. Er kann andere Kinder loben und sich freuen, wenn sie etwas Tolles gemacht haben, oder auch mal traurig sein und Trost annehmen. Ich habe auch sehr gute Erfahrungen gemacht mit speziellen Aufgaben für Lukas. Ich suchte eine Möglichkeit, sein Verlangen nach Bestätigung zu befriedigen. Dafür nutzte ich seine Hilfsbereitschaft einerseits (Blätter verteilen, Licht an- oder abmachen, Computer an- oder abstellen etc.) und versuchte, ihm häufig eine Plattform zu geben, wo er zeigen konnte, was er wusste oder konnte".
Die Fortschritte von Lukas sind beeindruckend: Er stört weniger, kann dafür seine Gefühle besser äussern. Gewalttätiges Verhalten entpuppt sich hier wie so oft als Folge eines Defizits an Sozialkompetenz. Ein Zuwachs an sozialer oder emotionaler Kompetenz ermöglicht dem betreffenden Kind, Gewalt durch Sprache zu ersetzen. Lukas hat sogar gelernt, andere Kinder zu loben. Zudem hat ihm die Lehrerin Wege aufgezeigt, wie er positiv zur Geltung kommen kann. Wie schon Pestalozzi sagte: „Das Kind möchte schon gut sein, wenn ihm der Weg dazu nicht verrammelt worden ist".
Sabine Weissen: „Am Anfang waren die Kinder durch mein Verhalten, nicht gleich zu urteilen und zu strafen, noch verunsichert. Langsam gewannen sie Vertrauen und fordern nun nicht mehr ständig Strafen füreinander. Ich habe am Anfang viel Zeit investiert, habe immer wieder betont, dass Gefühle wie Wut, Trauer und Angst ganz natürlich sind, dass es aber für das Zusammenleben wichtig ist, sie zu kennen und zu lernen, damit umzugehen. Das hiess für mich als Vorbild, dass auch ich zu meinen Gefühlen stehen musste, zum Beispiel indem ich ihm sagte, was und warum mich etwas wütend machte. Wurde ich einmal zu Unrecht wütend, habe ich mich entschuldigt. Ich behandle die Kinder mit Respekt und Humor und stelle sie nicht bloss, nehme sie in ihren Gefühlen ernst und höre ihnen zu. So kann ich dasselbe mit der Zeit auch von ihnen verlangen und sie geben das auch gerne zurück, weil es sich gut anfühlt. So wurde das Zusammenleben immer friedlicher und die Auseinandersetzungen in ihren Spielen wurden kreativer".
Beeindruckend, wenn eine Lehrerin einen Fallbericht so beenden kann. Sie lebte ihrer Klasse vor, wie wichtig eine wohlwollende Grundeinstellung, Verständnis und Geduld sind. Sabine Weissen zeigte den Kindern immer wieder, was es heisst, sich selber, seine eigenen Gefühle und diejenigen der anderen Menschen zu verstehen. Sich selber zu kennen, heisst zum Beispiel auch zu wissen, wann man zu Recht und wann man zu Unrecht wütend geworden ist. Das eine vom anderen zu unterscheiden und sich zum Beispiel dann zu entschuldigen, wenn man übertrieben reagiert hat, ist – wie Lehrerin Weissen vorlebt – ein Merkmal der Selbstkompetenz. Schön zeigt der Fallbericht auch, dass die Förderung von Sozial- und Selbstkompetenz und Souveränität ein kontinuierlicher Prozess ist, der schrittweise und über längere Zeit voranschreitet und nicht nur dem zuerst im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen stehenden Kind, sondern der gesamten Klasse zugute kommt. Der Individualpsychologe Alfons Simon geht sogar so weit, den Gewinn der Klasse als den grössten zu bezeichnen. Er schrieb: „Der Gewinnanteil, der auf die Klasse fiel, ist wahrscheinlich der grösste. Sie hat erlebt, wie nur der Unrecht tut, der selber in irgendeiner Not ist, denn kein Glücklicher quält seinen Mitmenschen" (Simon in Rüedi 1995, S. 135). Das Beispiel von Lukas veranschaulicht zudem, dass Erziehung, Verstehen und Helfen Zeit, Geduld und Engagement brauchen. Ohne den Einsatz von Sabine Weissen für „ihren" Lukas, wenn sie nicht so geduldig am Ball geblieben wäre, wäre diese Entwicklung nicht möglich geworden.