Falldarstellung: ADHS-Prävention – Gedanken aus individualpsychologischer Sicht

Die sog. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), nach DSM-IV: Aufmerksamkeits-Defizit / Hyperaktivitäts-Störung, ist heute von grosser Bedeutung. Genaue Häufigkeitsangaben sind abhängig von den zugrundegelegten Diagnosekriterien (DSM-IV, ICD-10). Aus international an der allgemeinen Bevölkerung erhobenen Daten ergibt sich eine Häufigkeit von 9,2% (5,8-13,6%) für Jungen und 2,9% (1,9-4,5%) für Mädchen. Neuere deutsche Erhebungen [Brühl et al., 2000] fanden bei 6-10 Jahre alten Kindern in 6% ein ADHS (nach DSM-IV).

Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage der Prävention mit besonderem Nachdruck. Wie kann Hyperaktivität und Verhaltensstörungen entgegengewirkt und vorgebeugt werden? Nachgewiesen ist die Bedeutung des Erziehungsverhaltens als Faktor, der das Verhalten des Kindes beeinflusst (vgl. Wolff Metternich et al. 2002, S.99). Wichtige präventive Programme setzen darum am Erziehungsverhalten der Eltern, Erzieher und Lehrer an. "Die Wirksamkeit von verhaltenstherapeutischen Interventionen bei expansiv auffälligen Kindern, insbesondere von Elterntrainings, konnten mittlerweile in vielen Studien belegt werden." (ebd.)

Anregungen dazu, wie der Beitrag der Individualpsychologie im Bereich von Prävention und Schule aussehen könnte, soll das nachfolgende Beispiel vermitteln.

Diese Falldarstellung ist aus einer Zusammenarbeit von Herrn Ott, einem individualpsychologisch orientierten Lehrer, mit dem Verfasser entstanden. Aus Gründen der Schweigepflicht mussten gewisse Angaben geändert werden. Herrn Ott sei an dieser Stelle für seine Offenheit und für seine Sensibilität gedankt. Ohne ihn und seinen Einsatz wäre es nicht zur folgenden Entwicklung und damit nicht zu dieser Falldarstellung gekommen (vgl. Rüedi 2001).

1. Falldarstellung

Peter geht bald ein Jahr in die vierte Klasse von Herrn Ott . Diesem ist er schon zu Beginn des Schuljahres durch verschiedene Verhaltensweisen aufgefallen: er stand plötzlich und ohne ersichtlichen Grund im Unterricht auf, lachte, hüpfte ständig auf seinem Sitzball hin und her (in der Schweiz sitzen viele Klassen aus prophylaktischen Gründen zur Schonung des Rückens auf besonderen Bällen) und störte so den Unterricht. Aber auch ausserhalb des Schulzimmers fiel Peter auf. Er begann auf dem Pausenplatz Schlägereien mit anderen Schülern, rief laut aus, provozierte andere, gerade auch ältere Schüler und war offensichtlich darauf aus, Unruhe zu erzeugen. Im Sport konnte er sich nicht an die Spielregeln halten, sondern geriet ausser sich, wenn er einen Fehler gemacht hatte und deshalb zurückgepfiffen wurde.

Die Nachfragen des alarmierten Lehrers bei den früheren Lehrkräften von Peter ergaben das folgende Bild: Peter hatte sich seit der ersten Klasse auffällig und unkontrolliert verhalten, es war seiner damaligen Lehrerin nicht gelungen, korrigierend einzugreifen. Peter wurde in den folgenden Jahren das “schwarze“ Schaf, weil die anderen Kindern seine Störungen und Provokationen gar nicht etwa schätzten, im Gegenteil. Er rutschte immer stärker in die “Sündenbockrolle” hinein, wurde von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern angegriffen, beschuldigt und hie und da auch ausgeschlossen. Er hatte es in zwei, drei Jahren geschafft, zum “Quartierschreck” zu werden, der gar nicht gerne im eigenen Garten gesehen war. Vergegenwärtigte man sich Peters Reaktionen, z.B. seine Fouls im Fussball oder seine gefährlichen Schneeballgeschosse, war diese Entwicklung nicht weiter erstaunlich.

Wie reagierte der Viertklasslehrer, Herr Ott?

Herr Ott ist seit zehn Jahren Mittelstufenlehrer in der deutschsprachigen Schweiz. Mit „Mittelstufe“ wird die vierte und fünfte, zum Teil auch die sechste Klasse gemeint. Peter war somit zehn Jahre alt, als er nach drei Schuljahren bei jüngeren Lehrkräften, die zum Teil soeben erst ausgebildet worden waren, zu Herrn Ott kam. Diesem war sofort klar, dass er es mit einem auffälligen Schüler zu tun hatte, der seiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte. Das unkontrollierte Verhalten von Peter konnte keinesfalls toleriert werden. Herr Ott war zudem nicht gewillt, Störungen seines geplanten Unterrichtes in Kauf zu nehmen. Seine Menschenkenntnis und seine Erfahrung sagten ihm, dass es für Kinder wie Peter nicht sinnvoll ist, wenn sie eine Sonderrolle spielen können. Sie werden dann in ihrer Meinung bestärkt, dass für sie besondere Massstäbe gelten, was sich wiederum ungünstig auf die übrige Klasse auswirkt und disziplinarische Erosionen auslöst. Mit Ernst und Festigkeit wies Herr Ott Peter darum gleich zu Beginn auf die geltenden Regeln hin, was diesem sichtbaren Eindruck machte. Allerdings brauchte es oft die gesamte Energie des Lehrers, um Peter in die Schranken zu weisen.

Ein Beispiel möge dies illustrieren: Das Singen und Musizieren gefiel Peter sehr. Am zweiten Schultag mussten sich alle Kinder mit einem Instrument ihrer Wahl im Raum verteilen. Ein Kind mit verbundenen Augen musste durch den „Instrumentenwald“ wandern, die anderen gaben stets einen Laut von sich, sobald sich ihnen der „Wanderer“ oder die „Wanderin“ näherte. Peter war ganz aufgeregt, er wollte das grösste Instrument, rief dementsprechend laut bei der Verteilung und wollte zugleich „Wanderer“ sein. Herr Ott versuchte es mit einer Kombination von Ignorieren und Zurechtweisen: er bevorzugte Peter nicht etwa bei der Auswahl des „Wanderers“, wies ihn aber zurecht, wenn dieser sein Tamburin ertönen liess, ohne dass der „Wanderer“ oder die „Wanderin“ in der Nähe war. Interessant waren jeweils die Reaktionen der Mitschülerinnen und Mitschüler. Teils lachten sie bei Peters „Musik zum falschen Zeitpunkt“, aber zumeist warfen sie sich vielsagende Blicke zu oder ignorierten ihn. Vor allem die Mädchen fanden Peters unkontrolliertes Verhalten eher kindisch, einige bemerkten ärgerlich :“Schon wieder der !“ Für Herrn Ott waren solche Reaktionen aus der Klasse wichtige Hinweise auf Peters Stellung in der Klasse. Er schien nicht besonders beliebt zu sein, ein Eindruck, der sich bald verfestigen sollte, wenn zum Beispiel im Turnen gewählt wurde.

Nach solchen Situationen, wenn sich Peter auffällig verhalten hatte, war es Herrn Ott wichtig, mit ihm nach dem Unterricht unter vier Augen zu sprechen. Einzelgespräche unter vier Augen haben den Vorteil, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer fehlen und damit die Rollen von Märtyrer, Rebell oder Held wegfallen. Herr Ott spürte, dass Peter dann beeindruckbarer war. Wenn er ihn wohlwollend und bestimmt zugleich fragte, warum er heute so unruhig gewesen sei, was heute los gewesen sei, wand er sich jeweils und versprach, sich zu bessern. Peter wusste also sehr wohl, wie er sich verhalten hatte. Diese realistische Selbsteinschätzung war eine gute Voraussetzung für den nächsten Schritt. Herr Ott griff diese Vorsätze dankbar auf, weil sie ihm erlaubten, daran anzuknüpfen und Peter Ziele vorzugeben, die an einem Tag, dann auch in einer Woche zu erreichen waren. Nach der abgemachten Zeitperiode musste Peter jeweils in einem Gespräch unter vier Augen selber einschätzen, ob er die Ziele erreicht hatte oder nicht. In der Schweiz sprechen manche Lehrkräfte von “Verträgen”, in Deutschland wird der Begriff “Detektivbogen” verwendet (vgl. Petermann/Petermann 2001, S.61). Der Vorteil solcher Selbstbeobachtungs- und Selbstbeurteilungsbögen ist, dass der betreffende Schüler genau weiss, was von ihm erwartet wird, er beobachtet sich in der Folge genauer und verhält sich im günstigen Falle kontrollierter und weniger affektgesteuert. Der erste Vetrag mit Peter lautete: „Peter sitzt heute ruhig auf seinem Sitzball. Er ruft nicht in den Unterricht hinein und lacht nicht laut.“ Der Rückblick am Ende dieses Tages ergab eine realistische Selbsteinschätzung durch Peter, der selber die drei folgenden Zeichen entworfen hatte: „ + / + - / - „. Das mittlere Zeichen schien ihm für diesen Tag angebracht, was von Herrn Ott bejaht wurde. Damit konnte die Wiederholung bzw. Verbesserung des ersten Zieles ins Auge gefasst werden, ein Prozess, der zugleich eine gewisse Nähe zwischen den beiden Akteuren entstehen liess. Sie machten in der Folge Signale ab, deren Bedeutung nur sie kannten. Ein Klatschen von Herrn Ott hiess zum Beispiel: „Aufgepasst Peter !“

Für die Lehrkraft, welche solche Verträge mit einem Schüler oder einer Schülerin abgemacht hat, ist die Fortsetzung spannend zu verfolgen. Bei Peter war das Resultat offensichtlich: er bemühte sich sofort, sich kontrollierter zu verhalten, die klaren Zielvorgaben halfen ihm.

Herr Ott schrieb nach den zehn ersten Wochen in sein Klassenbuch: „Innerhalb des Klassenzimmers hat sich Peters Verhalten wesentlich verbessert. Er fällt kaum mehr auf, sitzt meistens ruhig auf seinem Sitzball, verfolgt den Unterricht aufmerksam. Er streckt auf und gibt vor allem in Deutsch und Naturkunde richtige und kreative Antworten.

Weiterhin besorgniserregend sind seine Ausbrüche in der Pause und im Sport. In solchen Situationen scheinen ihm die Sicherungen durchzubrennen. Diese Woche hat er im Turnen einer Kameradin den Fussball voll in den Bauch geschossen, obwohl das Spiel bereits unterbrochen worden war.“

So fasste der Lehrer, Herr Ott, die ersten Wochen mit Peter zusammen.

 

Voraussetzung für diese Entwicklung war der Aufbau einer positiven Beziehung . Es war Herrn Ott gelungen, Peter ein Stück weit für sich zu gewinnen. Herr Ott ging mit Alfred Adler davon aus, dass eine erzieherische Einwirkung nur möglich ist, wenn sich das Kind bejaht und als Persönlichkeit gewürdigt sieht; der Grad der erzieherischen Beeinflussbarkeit ist davon abhängig, „inwiefern die Rechte des zu Beeinflussenden durch den Beeinflusser sichergestellt erscheinen. Eine dauernde Einwirkung auf einen Menschen, dem man Unrecht tut, ist ausgeschlossen. Man wird dann am besten auf ihn einwirken können, wenn der andere in die Stimmung versetzt ist, in der er sein eigenes Recht als gewährleistet empfindet. Das ist besonders für die Erziehung ein wichtiger Gesichtspunkt. (...) Eine Erziehung, die diesen Gesichtspunkt berücksichtigt, wird deshalb wirksam sein, weil sie an das Ursprünglichste anknüpft, an das Gefühl der Zusammengehörigkeit.“ (Adler 1927/1972, S.66)

Bei Peter war das "Gefühl der Zusammengehörigkeit", das Gemeinschaftsgefühl in den ersten Lebensjahren nicht in jeder Beziehung gedrosselt worden. Er zeigte eine seelische Bereitschaft, auf die Vorgaben und Anordnungen seines Lehrers einzugehen. Im nächsten Kapitel soll diese Aussage genauer erläutert werden.

2. Analyse

Die Individualpsychologie stellt der Lehrkraft für den Umgang mit unkontrollierten oder verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern ein reichhaltiges diagnostisches Instrumentarium sowie vielfältige theoriegeleitete Vorgehensweisen zur Verfügung (vgl. Rüedi 1992, S.264-314). Dass dabei heute integrativ Hilfen aus anderen theoretischen Richtungen miteinbezogen werden, ist anhand der vorhin beschriebenen Verwendung von „Detektivbogen“, die aus der Verhaltenstherapie stammen, klar geworden. Die Individualpsychologie ist deshalb schon als „offenes System“ bezeichnet worden, wobei anzumerken ist, dass bereits Adler in seinen Beratungsgesprächen mit Zielveinbarungen arbeitete.

Im Falle von Peter waren sofortige Reaktionen des Lehrers notwendig. Peter drohte, die Disziplin zu stören und durcheinanderzubringen, so dass Herr Ott handeln musste. Intuitiv erkannte er, dass hier klare Grenzsetzungen angebracht waren, jedes Zuwarten hätte sich verheerend auf die gesamte Lernsituation in der Klasse ausgewirkt. Auch für Peter selber wäre es nicht gut gewesen, ihn in seinem aggressiv-unkontrollierten Verhalten gewähren zu lassen. „Wer schweigt, scheint zuzustimmen.“ heisst das alte römische Sprichwort, das aus individualpsychologischer Sicht für viele Fälle zutrifft. Oder moderner mit Watzlawick formuliert: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Lehrkräfte sollten aus individualpsychologischer Sicht Kinder nicht auf der „unnützen Seite des Lebens“ (Adler) gewähren lassen. In diesem Sinne vertritt der Begründer der Individualpsychologie einen aktiven Führungsstil, wenn es darum geht, Kindern den Weg zu produktiven und kooperativen Verhaltensweisen zu weisen.

Parallel zu diesen “Sofortmassnahmen” begann Herr Ott, sich selber Fragen zu stellen: Warum benimmt sich dieser Schüler so auffällig ? Wo/wann hat er diese Verhaltensweisen gelernt bzw. warum hat er nicht gelernt, sich altersgemäss kooperativ zu verhalten? Die individualpsychologische Theorie geht von einem optimistischen Menschenbild aus, betrachtet das Kind als potentiell soziales, zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Rücksichtnahme fähiges Wesen und fragt bei Verhaltensauffälligkeiten bzw. asozialem Verhalten, warum und wieso sich dieses entwickeln konnte. Mit den Worten des deutschen Sonderpädagogen Ulrich Bleidick: “Das Kind m a c h t keine Schwierigkeiten, sondern e s h a t selbst welche. Die Einsicht in diesen Zusammenhang bildet die Grundlage allen individualpsychologischen Verstehens” (Bleidick 1985, S.83). Die Frage nach der biographischen Entstehung - die Individualpsychologie verwendet seit Adler für die in den ersten Lebensjahren ablaufenden Charakterbildungsprozesse den Begriff “Lebensstil” - leitet somit die Pädagogin, den Pädagogen dazu an, nach den Entstehungshintergründen des sozialen Defizits, der mangelnden Sozialkompetenz zu suchen.

Nach dieser kurzen theoretischen Andeutung zurück zu Peter: Herr Ott begann sich für die Frage zu interessieren, wie wohl dieses unkontrollierte Verhalten entstanden war. Jetzt musste er die Eltern von Peter einbeziehen. Von diesen erhielt Herr Ott bereitwillig Auskunft, weil sie das Interesse für ihren Sohn spürten. Sie hatten bereits zahlreiche Erklärungen für Peters Affektreaktionen gesucht, dabei jedoch schwerpunktmässig die anderen Kinder im Auge, welche ihren Sohn - wie sie meinten - stets herausforderten. Vor allem bei der Mutter zeigte sich eine starke Tendenz, ihren Peter in Schutz zu nehmen. Wenn sich zum Beispiel eine andere Mutter telefonisch bei Peters Mutter beklagte, nahm diese ihren Sohn automatisch in Schutz, ohne nach dem Sachverhalt zu fragen, nach dem Grund, warum die andere Mutter überhaupt anrief. Im Gespräch mit Herrn Ott kristallisierte sich dieselbe Tendenz heraus, sich beschützend vor den Sohn zu stellen und ihn zu entlasten, anstatt ihn zu befragen oder gar zu fordern. Interessanterweise meldete der Vater in den gemeinsamen Elterngesprächen manchmal von sich aus gewisse vorsichtige Bedenken gegenüber der erzieherischen Haltung seiner Frau an, die beiden waren sich offensichtlich bezüglich der Peter gegenüber einzunehmenden Haltung nicht einig, hatten diese Uneinigkeit jedoch noch nie zu Ende diskutiert. Die Gespräche mit Herrn Ott über Peter sollten für die Eltern zum Beginn einer ernsthaften Diskussion über ihre persönlichen Erziehungsauffassungen werden, was umso notwendiger war, als dass der um drei Jahre jüngere Bruder bereits ähnlich auffallende Verhaltensweisen zeigte.

Immer deutlicher erkannte Herr Ott, dass Peter als ersehnter Stammhalter und Erstgeborener in seiner Familie nie hatte Forderungen erfüllen müssen. War er zum Beispiel mit einem anderen Kind zusammengestossen, hatte seine Mutter stets auf dessen Grobheiten hingewiesen, anstatt ihren Sprössling auf seinen Beitrag hin zu befragen. Im Haushalt hatte er sowieso nie mithelfen müssen, er wurde verwöhnt und umsorgt. Forderungen zu erfüllen war ihm fremd, durch sein blosses Auf-dieser-Welt-Sein war ihm die Aufmerksamkeit seiner Mutter gewiss, die sein unkontrolliertes Verhalten lange als mutig und phantasievoll gedeutet hatte. Im Sinne der Verhaltenstherapie könnte man hier von einem unbeabsichtigten „Verstärkersystem“ sprechen. Für die Individualpsychologie bildet sich die Persönlichkeit, der „Lebensstil“, in den ersten Lebensjahren auf dem Weg von Versuch, Irrtum und Erfolg. Ziele, die sich als unmöglich, Mittel, die sich als unzweckmässig erweisen, werden vom Kind fallengelassen, gleichsam aus dem Verhaltensrepertoire gestrichen. Erfolgreiche Mittel werden laut Adler ausgebaut, verstärkt oder verfeinert.

Peters Mutter hatte anscheinend, ohne dies zu merken, gewisse Verhaltensweisen ihres ältesten Sohnes verstärkt. Sie hatte grosse Schwierigkeiten, ihren Sohn nach seinen gewalttätigen Ausbrüchen zu stellen und einen anderen Umgang von ihm zu fordern, weil sie damit ihren bisherigen Erziehungsstil hätte hinterfragen bzw. umkehren müssen. Der Tatsache ins Auge blicken zu müssen, den eigenen Sohn vor dem Zusammenstoss mit der Realität total verschont und ihn damit in einem Stadium des kindlichen Egozentrismus belassen zu haben, das war keine einfache Sache für eine Mutter, deren ganzer Lebensinhalt ihre beiden Söhne waren. Allerdings begann es ihr langsam zu dämmern: gerade das In-Watte-Packen hatte ihrem Sohn geschadet, der so nie gelernt hatte, sich in die anderen hineinzuversetzen, deren Gefühle zu verstehen. Aber seine eigenen Gefühle hatte er auch kaum verstehen gelernt, seine Mutter war sofort eingesprungen, hatte für ihn gesprochen, hatte keine verstehbaren Formulierungen der eigenen Befindlichkeit von ihm verlangt, war so über ihn hinweggegangen und hatte es versäumt, Peter zum Herauswachsen aus der Egozentrizität des Kleinkindes zu verhelfen.

Zusammengefasst sieht die individualpsychologische Analyse von Peters Entwicklung so aus: Er hat in seiner Kindheit nie gelernt, die Welt “mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen” (Adler 1928/82, S. 224), seine Mutter hatte ihn verzärtelt und verwöhnt, ihn vor der Aussenwelt beschützt, anstatt ihn zu deren Verständnis anzuleiten. Adler sprach zuweilen von den zwei Aufgaben der Mutter: “1. Das Kind für sich zu gewinnen, das Interesse des Kindes auf sich zu lenken, ihm als ein Mitmensch vor Augen zu stehen. 2. Das Interesse dieses Kindes auf andere zu lenken, als Mitmensch den Vater auch zu finden” (Adler 1929/1973, S.29). Gerade diese zweite Aufgabe, die Weiterleitung des Sohnes an den Vater bzw. an die Aussenwelt war bei Peter misslungen. Der Mutter war es aus unbewussten Motivationen heraus nicht möglich gewesen, ihre Söhne loszulassen, sie selbständig werden zu lassen und ihnen die eigenständige Bewältigung der sozialen und schulischen Aufgaben zuzutrauen. Sie hatte auch keine altersgemässen Forderungen an Peter gestellt und es damit verpasst, ihm zu zeigen, dass seine Beitragsleistung wichtig war, nicht nur seine blosse Anwesenheit. So war bei Peter einerseits kein Einfühlungsvermögen, kein “Gemeinschaftsgefühl” entstanden, in dieser Hinsicht war er auf der Stufe eines auf sich fixierten vierjährigen Kindes stehen geblieben. Andrerseits wies er ein Defizit an gewaltlosen Verhaltensweisen auf, weder verfügte er über Selbstkontrolle, noch über die Fähigkeit, andere zu fragen, zu verhandeln oder sich für seine Rechte mit Argumenten einzusetzen.

Die Individualpsychologie hat das Konzept des “Minderwertigkeitsgefühls” eingeführt, um auf das Defizit hinzuweisen, das Kinder plagen und in einem nächsten Schritt zu kompensatorischen und asozialen Handlungen führen kann. Allerdings lassen sich Peters Reaktionen nicht nur mit dem Vorhandensein von “Minderwertigkeitsgefühlen” erklären, sondern er hat im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung auch eine falsche Selbsteinschätzung („Ich darf alles tun, ich bin schon gross“), eine irrtümliche “Meinung von sich und der Welt” (Adler) erworben, eine Selbstüberschätzung und Ueberheblichkeit, die sich etwa in der Selbstverständlichkeit äussert, dreinschlagen zu dürfen.

Eine wichtige Rolle für die individualpsychologische Analyse spielt die Berücksichtigung der Geschwistersituation (vgl. Rüedi 1992, S.72ff. / S.125ff.). Adler hat sich schon früh den Beziehungen unter den Geschwistern zugewandt. 1918 legte er seinen damaligen Wissensstand dar und unternahm einen ersten Ausbau der Theorie der Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe (vgl. Ansbacher/ Ansbacher 1982, S.353). Es ging ihm um die dynamische Erfassung der gesamten Situation des Kindes und um dessen individuelle Erlebensweisen.

Beim Aeltesten - Peter wäre ja einer - sieht Adler gewisse mögliche Tendenzen: „Vor allem hat er den Vorteil einer ausgezeichneten Position für die Entwicklung seines Seelenlebens. (...) Das erzeugt in ihm eine Stimmung, die sich ungefähr in Gedankengängen ausdrückt wie: du bist der Grössere, Stärkere, Aeltere, musst daher klüger sein wie die andern.. .“ (Adler 1927/1972, S.141)

 

Der Vorzug des Aeltesten, grösser und erwachsener zu sein als seine Geschwister, kann sich gleichzeitig in einen Nachteil umwandeln, wenn die Eltern von ihm unnachgiebig verlangen, dass er der Aelteste und Grössere sein m u s s. Bei Peter war tatsächlich eine Angst, den hohen Erwartungen an den Aeltesten nicht gewachsen zu sein, festzustellen. Er zeigte ungeduldige Reaktionen in anforderungsreichen Lernsituationen und hatte anscheinend ein hohes Anspruchsniveau verinnerlicht. Erschwerend für Peter kamen Ängste hinzu, vom quirligen jüngeren Bruder überrundet zu werden. Auf diesbezügliche Nachfragen von Herrn Ott schilderten die Eltern, Peter sei dem jüngeren Bruder gegenüber eifersüchtig und habe anscheinend Ängste, entthront zu werden. Eine weitere Kehrseite der zeitweiligen Vorzugsstellung waren seine grössenwahnähnliche Selbstüberschätzung und seine egozentrischen Vorstellungen: „Mir gehört die Welt !“, Vorstellungen, die durch den verwöhnenden Erziehungsstil der Eltern, vor allem der Mutter, sehr gefördert worden waren. Wie angedeutet hatte sie Peter lange in Watte gepackt, so dass er viel zu wenig die Notwendigkeit erlebt hatte, andere Menschen miteinzubeziehen, mit ihnen zu reden, diese zu bitten oder zu fragen.

Damit entsprach Peters Entwicklung in mancherlei Hinsicht dem, was Adler als Folgen der „Verzärtelung“ (Adler 1930/1980) beschrieben hatte: Kinder mit hohen Erwartungen an sich und an die Umwelt, die aber zugleich massive Defizite an Sozialkompetenz aufwiesen, Kinder mit wenig Alternativen zu aggressiv-unkontrolliertem Verhalten.

Allerdings dürfen bei Peter die positiven Seiten nicht übersehen werden, seine Ressourcen - die Individualpsychologie spricht von Quellen - sowie seine Mutreserven. Einerseits hatte er bis heute nie aufgegeben, in der Gemeinschaft mitzutun, im Gegenteil, ein unbändiger Einsatz- und Siegeswille kennzeichnete ihn. Im Fussball zum Beispiel wollte er unbedingt Tore schiessen und seine Mannschaft voranbringen, gelang ihm dies nicht, vergass er alle Regeln. Ihm fehlte das Mass, die Grenze, aber nicht die grundsätzliche Einsatzbereitschaft. An diese konnte Herr Ott anknüpfen, musste ihr allerdings die soziale und nützliche Richtung weisen.

Die Ressourcen von Peter zeigten sich weiter in verschiedenen Schulfächern. Im Deutsch zum Beispiel zeichnete er sich durch gute Aufsätze aus, er war ehrgeizig und motivierbar. Gerne las er seine Aufsätze vor. Auch für Hilfeleistungen gegenüber schulisch schwächeren Kindern war Peter zu gewinnen. Die Individualpsychologie als „fröhliche“ und „optimistische Wissenschaft“ (Adler) legt grossen Wert darauf, nicht nur dem gegen die Gemeinschaft Gerichteten, dem „Gegenmenschen“ entgegenzutreten, sondern gleichzeitig bei den Ressourcen und Quellen anzusetzen. Ermutigen, die Stärke unterstützen, kein Kind für hoffnungslos halten, sondern aktiv das Bestärkenswerte suchen, diese Einstellung gehört zur Individualpsychologie: „Wir müssen das sichere Gefühl haben, dass sich stets eine Methode finden lässt, um einem Kind zu helfen. Selbst unter den schlimmsten Umständen steht immer ein bestimmter Zugang offen - den wir freilich entdecken müssen“ (Adler 1930/1976, S.101).

Bei Peter konnte man keinesfalls von „schlimmsten Umständen“ sprechen, das zeigte bereits die tendenziell günstige Entwicklung in den ersten zehn Wochen bei Herrn Ott. Sein „Gemeinschaftsgefühl“ war in den ersten Lebensjahren nicht in jeder Hinsicht „gedrosselt“ worden. Peter war wohl massiv verwöhnt worden, hatte nicht gelernt, sich an Grenzen zu halten, hatte dafür aggressiv-unkontrolliertes Verhalten eingeübt, ohne dabei an die anderen Kinder zu denken, aber er war noch nicht total auf der „unnützen Seite des Lebens“ gelandet. Er war als Erstgeborener bei seiner Geburt willkommen geheissen und umsorgt worden und hatte ein gewisses „Urvertrauen“ (Erikson) entwickelt. Er hatte die Offenheit nicht verloren, sich von Menschen helfen zu lassen. So reagierte er positiv auf die Bemühungen des neuen Lehrers und spürte dessen grundsätzliches Wohlwollen. Herr Ott praktizierte die für die Individualpsychologie so wichtige Unterscheidung zwischen „Tat“ und „Täter“, er akzeptierte Peter als Mensch, nicht aber dessen asoziale Taten. Genau diese pädagogische Haltung von Herrn Ott war wichtig für die positive Entwicklung von Peter. Ihm hatten bisher das Nein, der Widerstand, die Grenzsetzung gefehlt, die Möglichkeiten der Orientierung. Der Vater hatte die Aufgabe der Orientierung nur ansatzweise übernehmen können, die Mutter hatte ihm unbewusst entgegengearbeitet, und für die bisherigen Lehrkräfte von Peter - alle jüngere - war er eine Schuhnummer zu gross gewesen. Wichtig war jetzt die Wende: Peter musste lernen, sich gewaltlos zu verhalten, und seine Eltern mussten in der Elternberatung lernen, wie sie ihren abgöttisch geliebten Sohn wirklich unterstützen konnten.

Nach einem halben Jahr konnte Herr Ott eine merkliche Verbesserung bei Peter im Rahmen des Unterrichtes feststellen. Das störende Verhalten im Klassenzimmer war weitgehend verschwunden. Im Sport bemühte sich Peter sichtlich, die Regeln einzuhalten. Ausserhalb des Unterrichtes provozierte er jedoch weiterhin, aus der „Sündenbockrolle“ hatte er noch nicht herausgefunden, trotz gewisser Verbesserungen im Rahmen des Klassenverbandes. Herr Ott wollte mit seinen Bemühungen fortfahren, hatte jedoch gleichzeitig den Eltern nahegelegt, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Herr Ott empfahl den beiden, ihre Uneinigkeiten zu besprechen, zu klären und ihrem ältesten Sohn gegenüber mit gemeinsamer Entschiedenheit aufzutreten. Herrn Ott war es wichtig, den Eltern ihre Verantwortung für die Entwicklung von Peter aufzuzeigen und ganz in ihre Hände zu übergeben. Ein kürzlicher Vorfall hatte diesen Schritt, den der Lehrer schon länger erwogen hatte, beschleunigt. Beim Wintersport war allen Peters Fremdgefährdungspotential wieder einmal vor Augen geführt worden: er hatte mit Schneebällen wild um sich geworfen. Nur mit Glück waren die umherstehenden Kinder unversehrt davongekommen.

Das Erkennen der eigenen pädagogischen Möglichkeiten gehört somit genauso zur individualpsychologischen Diagnose wie das Erkennen der eigenen Grenzen bzw. das Verweisen an eine aussenstehende Fachkraft.

3. Lösungsmöglichkeiten aus individualpsychologischer Sicht

3.1 Die Ebene Lehrkraft-Schülerin/Schüler: die Gestaltung der Beziehung zum Kind

Bisher sind bereits zahlreiche Lösungsmöglichkeiten aus individualpsychologischer Sicht angesprochen worden. Allerdings befriedigt der Begriff „Lösungsmöglichkeiten“ nicht in jeder Hinsicht, geht es doch für die Individualpsychologie zuallererst um eine bestimmte pädagogische Haltung dem Kind mit hyperaktivem Verhalten gegenüber. Dieses wird nicht dadurch kooperativ, dass man ihm seine Hyperaktivität häufig genug vorhält. Adler vertritt vielmehr den Standpunkt, dass man Güte und Liebe voraussetzen muss, wenn man sie im Kinde wachsen lassen will. Erniedrigung führt dagegen meistens zu Niedrigkeit. Aus einer Freundschaft zwischen Pädagogin und Kind entsteht oft ein Sich-eins-Fühlen, das im Nu verwirklicht, was 1000 Ermahnungen nicht erzwingen können. Wohlwollen, Bejahung, Freundschaft, Ermutigung sowie Vermittlung von Einsicht und Erkenntnis, das sind für Adler heilende Faktoren, von denen er die Entwicklung zum Guten erwartet. Sie nützen mehr als das Einbleuen von Schuldgefühlen und das Vorwerfen von fehlender Lernbereitschaft oder mangelnder Selbstkontrolle. Jedes Haftbarmachen des unkontrollierten Kindes oder jedes Anwenden von Gewalt weist Adler zurück, weil diese Formen des Umgangs seinem Menschenbild widersprechen. Es dürfe keine einzige Situation im Leben des Kindes geben, in der es das Gefühl habe, das Wohlwollen und die Bejahung der Pädagogin prinzipiell verloren zu haben. Wexberg bezeichnet die Haltung des unerschütterlichen „freundschaftlichen Wohlwollens“ (Wexberg 1974, S.283) deshalb als anzustrebendes individualpsychologisches Ideal, auch wenn es in gewissen Situationen schwierig zu erreichen sein mag. Auf dem Hintergrund dieser pädagogischen Haltung, auf dem Hintergrund der eindeutigen Unterscheidung zwischen Tat und Täter sind für die Individualpsychologie pädagogische Beeinflussungen von Kindern mit unkontrollierten Verhaltensweisen möglich. Zuerst begegnete Herr Ott Peter mit dem Wissen, dass asoziale Handlungen in der Schule nicht geduldet werden dürfen, dass Peter eine klare Führung, eine deutliche Orientierung erleben muss. Natürlich darf auch aus diesem Wissen keine dogmatische Haltung abgeleitet werden, sondern vielmehr eine Richtschnur, die im begründeten Einzelfall im Sinne einer „antinomischen Pädagogik“ (Winkel) dem wohlwollenden Gewähren geopfert wird. Gleichzeitig bleibt jedoch die Verbesserung der Sozialkompetenz, des Gemeinschaftsgefühls, eine Richtschnur für die individualpsychologisch orientierte Lehrkraft. Herr Ott erkannte, wie wichtig es für Peter war, seine Fähigkeit der Einfühlung in andere Menschen zu verbessern. Goleman würde heute sagen, Peter fehlt es an „emotionaler Intelligenz“. Adler spräche davon, dass Peter nicht gelernt hat, „mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen“ (Adler 1928/1982, S.224).

Peter musste in erster Linie seine Sozial- und seine Selbstkompetenz verbessern und Verhaltensalternativen zu seinem aggressiv-unkontrollierten Verhalten finden. Konkret zeigte Lehrer Ott Peter mit den Verträgen, was er von ihm erwartete: kein Dreinrufen im Unterricht, Aufstrecken, das Beachten der Spielregeln im Turnen. Peter sollte seine Männlichkeit beweisen, indem er die Regeln im Sport unerbittlich einhielt. Männlich sei, seine Stimmung mit Worten auszudrücken, „Danke“ sagen zu können, auf dem Pausenplatz gerade keine Schlägereien zu provozieren, sondern sich aus Kämpfen herauszuhalten, sich in andere hineinzuversetzen und sich bei trotzdem erfolgten Verstössen zu entschuldigen, das sei wirkliche Männlichkeit. So gab Herr Ott Peter einen neuen Orientierungsrahmen von männlichem Verhalten vor. Es versteht sich von selbst, dass diese prosozialen Verhaltensalternativen zum unkontrollierten Verhalten nicht alle aufs Mal von Peter verlangt wurden, sonst wäre ein endloser Moralkatalog entstanden, sondern schrittweise im Sinne der möglichen Erreichbarkeit. Keinen Kompromiss gab es für Peter jedoch bezüglich des Störens und Dreinrufens in der Klasse: diese Beeinträchtigung der Lernatmosphäre duldete Herr Ott nicht mehr weiter, sonst hätte er Peter in seiner Sonderrolle belassen.

 

Parallel zum Aufzeigen erwünschten Verhaltens „auf der nützlichen Seite des Lebens“ (Adler) bemühte sich Herr Ott um ein vertieftes Verständnis der Vorgeschichte Peters. Die Analyse in Kapitel 2 hat bereits gezeigt, wie wichtig das Kennenlernen der Biographie ist, es eröffnet neue Einblicke und lässt viele bisher unerkennbare Zusammenhänge erkennbar werden. Die Beschäftigung mit dem Vorleben bringt uns auf einen Weg, der vom moralischen auf das psychologische Feld zu führen verspricht. Oft sind wir Lehrkräfte bei verhaltensauffälligen Kindern geneigt zu denken, warum sie sich nur so auffällig benehmen. Schwieriger fällt die Frage: Wie sehen sie die Welt? Was sind wohl ihre Gründe, ihre „Apperzeptionen“ (Adler), dass sie sich so und so benehmen und nicht anders? Für Herrn Ott war es darum wichtig, die Perspektive von Peter sowie die Hintergründe seines sozialen Defizits zu erkennen. Je genauer er dessen Grenzenlosigkeit als Folgen von Verwöhnung und inkonsequenter Erziehung einschätzen lernte, desto sicherer wurde er in seiner Haltung, von Peter Kooperation zu fordern und Tat und Täter konsequent auseinanderzuhalten.

 

Der Münchner Individualpsychologe Alfons Simon hat sein Fallbeispiel Max mit 10 Erziehungsmassnahmen für schwierige Kinder abgerundet. Sie heissen:

  • der Vorgeschichte des Kindes nachforschen,
  • ihm zunächst eine Schonzeit in der Klasse zubilligen,
  • ihm ein Klassenamt zuteilen,
  • sein Interesse daran wachhalten,
  • ihm in seinen schwachen Fächern nachhelfen,
  • die guten Seiten auf die rechte Weise pflegen,
  • die Klasse an seinen Fortschritten interessieren,
  • sich ihre Mitarbeit sichern,
  • die Eltern zu gewinnen suchen und
  • endlich - wenn die ersten sicheren Erfolge für alle sichtbar geworden sind - ihm ein sachliches und objektives Bild von sich und dem Leben vermitteln.“

(Simon in: Rüedi 1995, S.134f.)

 

Der letzte Auftrag, dem Kind „ein sachliches und objektives Bild von sich und dem Leben“ zu vermitteln, war für Herrn Ott im Falle von Peter nur bedingt möglich, dieser Anspruch der Einsichtsvermittlung ist zweifellos ein sehr hoher. Wichtig war für den Lehrer die Einsicht in Peters egozentrische Meinung, in dessen persönliche Ueberzeugung, die Welt hätte sich ihm und nicht er sich der Welt anzupassen. Mit diesem Einblick in den Charakter von Peter konnte Herr Ott diesem Widerstand leisten und wusste zugleich, dass er im ureigensten Interesse seines Schülers handelte. Peter „litt“ ja selber unter seiner egozentischen, eingeschränkten Sichtweise, auch wenn er dies nicht selber explizit formulieren konnte. Er war oft vielmehr der Schmied seines Unglückes, seiner Isolation als der Schmied seines Glückes. Herr Ott verhalf Peter somit zu mehr Autonomie, zu mehr sozialen Selbstgestaltungsmöglichkeiten.

Deutlich zum Ausdruck kommt, dass die individualpsychologische Pädagogik das Erzieherische hoch gewichtet, ohne einen Gegensatz zwischen „materialer“ (fachlicher) Bildung und „formaler“ Persönlichkeitsbildung herzustellen. Mit Adlers aktuell klingenden Worten von 1930: „ Zur Zeit erleben wir eine heftige Diskussion über die Frage, ob wir dem Kind Fächer und Fakten beibringen oder seine Persönlichkeit bilden sollen. In der Individualpsychologie ist man der Meinung, dass sich beides miteinander verbinden lässt.“ (Adler 1930/ 1976, S.97)

3.2 Die Arbeit mit der Klasse

Die Individualpsychologie Adlers ist zugleich Sozialpsychologie und betrachtet darum auch das unkontrollierte Verhalten von Peter unter sozialpsychologischer Perspektive. Diese zwingt sich auf, hat sich Peter doch bereits in den zwei Kindergarten- und in den ersten drei Schuljahren in eine besondere Rolle, in diejenige des Aussenseiters, hineinmanövriert, vor allem bei den Mädchen war er gar nicht beliebt.

In einem gewissen Sinn erwartete die Klasse - und dies zurecht - eine Massregelung Peters durch den neuen Lehrer . Dieser erkannte ebenfalls rasch, dass etwas geschehen musste, aber was? Die pädagogische Haltung von Herrn Ott, Peter nicht als Person abzulehnen, sondern nur das, was er zeitweise tat, verhinderte, dass der Knabe stärker in die Aussenseiterrolle hineingeriet. Zugleich registrierte die Klasse - und Peter damit -, dass hier gewisse soziale Regeln galten und von allen akzeptiert werden mussten, dafür setzte sich Herr Ott sehr ein.

Er hatte bereits seit einiger Zeit Erfolge mit Klassengesprächen - die Individual-psychologie spricht von „Klassenrat“ (Tymister 1995, S.62) - gesammelt.

Voraussetzungen für solche Klassengespräche sind gegenseitige Achtung, die in Wort und Tat zum Ausdruck gebracht werden muss, sowie ein demokratischer Führungsstil der Lehrkraft. Das Interessante an den Lewinschen Untersuchungen war ja, dass sich Korrespondenzen zwischen Leiterverhalten und Gruppenmitgliedsverhalten ergaben. Die Mitglieder der demokratisch geleiteten Gruppe arbeiteten selbständig und kooperativ, auch wenn sie alleine waren, was von der autokratisch geführten Gruppe gerade nicht gesagt werden kann. Wenn eine Lehrkraft Klassengespräche einsetzen will, muss sie einen demokratischen Führungsstil praktizieren, sonst ergeben sich Widersprüche. Herr Ott hatte sich bewusst und nach reiflicher Auseinandersetzung für den „Klassenrat“ entschieden. Er leitete ihn aus der individualpsychologischen Tradition ab, wie sie Birnbaum schon 1932 formuliert hatte: : „Die Klasse als Aussprachegemeinschaft trägt zur Aufarbeitung misslungener Sozialisationserfahrungen und zur Beziehungsklärung in einer Atmosphäre des Sich-gegenseitig-helfen-Wollens bei und leitet im Rahmen von Gesprächen aus Anlass konkreter Fälle mit der gebotenen Vorsicht zur Selbstdurchschauung (als Voraussetzung der Selbsterziehung) durch verstehendes Eingehen auf die Motive des Verhaltens beim einzelnen Kind an. Auf diese Weise mag es gelingen, dem Kinde zu helfen, grössere Sensibilität für interpersonale Beziehungen zu erwerben, die Brille seiner bisherigen tendenziösen Apperzeption abzulegen und eine sachliche Haltung einzunehmen.“ (Birnbaum 1932, S.19)

Die Dreikurs-Schule innerhalb der Individualpsychologie hat zahlreiche Möglichkeiten zur Führung von Klassengesprächen dargestellt und gelehrt (vgl. Echle 1992). Eine verbindliche Form für die Gestaltung des Klassenrates gibt es jedoch nicht.

Die Klasse von Herrn Ott setzt sich einmal in der Woche jeweils im Kreis zusammen, und jedes Problem, das die Klasse als ganze oder einzelne Kinder betraf, konnte vorgebracht werden. Bald nutzte ein Mitschüler, der sich durch Peter oft gestört fühlte, die Gelegenheit, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Peter vernahm so zum ersten Mal deutlich und in einer ruhigen Atmosphäre, ohne dass er sich gleich verteidigen musste, wie sein unkontrolliertes Verhalten auf seine Mitschülerinnen und Mitschüler wirkte, ein für ihn heilsames Erlebnis. Auch die Mädchen, die Peters Verhalten oft „kindisch“ und „daneben“ fanden, äusserten ihr Unbehagen. Peter bemühte sich in der Folge, dieser Kritik an seinem Verhalten Rechnung zu tragen. Es war nun eben nicht nur der Lehrer, der ihm den Weg wies, vielmehr war die ganze Klasse aktiv beteiligt. Einer solchen Phalanx Widerstand zu leisten war nicht einfach. Peter verhielt sich also höflicher und konzentrierter. Er war auf sein unkontrolliertes Verhalten mit Nachdruck und von allen Seiten hingewiesen worden. Vor allem im Unterricht beteiligte er sich engagiert und konzentriert. Auf Anregungen des Lehrers hin war er bereit, Mitschülerinnen und Mitschülern stofflich zu helfen, was seine Akzeptanz innerhalb der Klasse wiederum erhöhte. Wichtig war, dass Peter selber erkannte, dass er mit seinem bisherigen Verhalten daran beteiligt gewesen war, seit der ersten Klasse in die Aussenseiterrolle hineinzugeraten.

Erstmals wurde er zu einem Geburtstag eingeladen, gleichsam als Belohnung dafür, dass er begonnen hatte, die Regeln der Klasse einzuhalten. So verbesserte sich Peters Beziehung zur Klasse zusehends.

Bestehen blieben allerdings gewisse Probleme ausserhalb des Klassenzimmers. Auf dem Pausenplatz verwickelte Peter ältere Schüler weiterhin in Schlägereien, indem er provozierte oder störte. Er nahm anderen Schülern den Ball weg oder warf gefährliche Schneeballgeschosse in die Menge. Die Reaktionen der Betroffenen blieben jeweils nicht aus, so dass Peter wiederum als „schwarzes“ Schaf verfolgt wurde. Die Schulstunden nach solchen Pausen litten oft , das Lernklima wurde ungünstig beeinflusst. Klassenübergreifende Gespräche wären wohl notwendig gewesen.

Sozialpsychologisch wichtig war stets, dass die Klasse bei aller Kritik des Lehrers dessen grundsätzliches Wohlwollen gegenüber Peter spürte. Herr Ott bemühte sich, so oft es ging positive Leistungen Peters hervorzuheben, was in der Sprache oft möglich war. Oder im Turnen durfte Peter - wie andere auch - pfeifen und für die Einhaltung der Regeln sorgen.

3.3 Elternarbeit

Bereits vor 70 Jahren hat Alfred Adler die Lehrerinnen und Lehrer zur Elternarbeit angeleitet. Nach dem Ersten Weltkrieg baute er im Rahmen der österreichischen Schulreform der zwanziger und dreissiger Jahre in Wien rund 30 Erziehungs-beratungsstellen auf, an denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihm - viele psychologisch vorgebildete Ärztinnen und Ärzte - leitend tätig waren, und beriet Lehrkräfte mit schwierigen Kindern.

Bei Peter hatte sich bereits gezeigt, dass die Elternarbeit von einem gewissen Zeitpunkt an notwendig wurde. Herr Ott verspürte bald das Bedürfnis, von Peters Eltern gewisse Informationen zu erhalten. Aus diesen vorerst mehr auf Informationsgewinnung ausgerichteten Gesprächen wurde bald eine Elternberatung. Herr Ott erklärte den Eltern seine konsequente Haltung gegenüber Peter und forderte sie zur Mitarbeit auf, was heute angesichts der oft divergierenden Erziehungsziele zwischen Schule und Elternhaus - die Schule muss zwangsläufig mehr auf gewissen disziplinarischen Grundvoraussetzungen bestehen als das Elternhaus - sehr wichtig ist.

Mit der Zeit zeigte sich immer deutlicher, dass zwischen den beiden Elternteilen Uneinigkeiten bestanden, wie sie sich gegenüber ihrem ältesten Sohn verhalten sollten. Die Mutter tendierte zu einer beschützenden Haltung, der Vater wollte mehr fordern. Das war genau der Zeitpunkt, an dem Herr Ott die beiden auf die Notwendigkeit einer Beratung durch eine aussenstehende Fachperson hinwies, weil er hier an der Grenze seines Wirkungsfeldes angekommen war. Aus individualpsychologischer Sicht sind Unstimmigkeiten der Eltern eine grosse Gefahr für die Erziehung: „Am Willen fehlt es wohl nie. Was am meisten die ruhige Entwicklung des KIndes stört, ist die Uneinigkeit der Eltern ...“ (Adler 1912, S.227).

Soweit einige Andeutungen zur Elternarbeit in diesem Beispiel.

Wichtig ist für die Individualpsychologie die situationsadäquate Kombination der drei behandelten Ebenen „Gestaltung der Beziehung zum Kind“ (Kap. 3.1), “Arbeit mit der ganzen Klasse“ (Kap. 3.2) und „Elternarbeit“ (Kap. 3.3), sie bilden das Fundament einer systematischen ADHS-Prävention aus schulischer Perspektive.

Ausführlicher nachlesbar ist diese Kombination in den beiden Fallbeispielen „Max“ und „Rosanna“ (in: Rüedi 1995, S.105- 135 und S. 137-165).

Zu kurz kommen musste in diesem Beitrag die Arbeit des Lehrers/der Lehrerin an sich selber. Das wäre systematisch gesehen die vierte Ebene einer umfassenden Prävention, die „Selbsterziehung“, wie die klassische Individualpsychologie sagte. Als Tiefenpsychologie setzt sie Selbsterkenntnis und Einblick in die eigene Persönlichkeitsstruktur als unerlässlich voraus, damit mit Kindern wie Peter erfolgreich gearbeitet werden kann. Hätte sich Herr Ott zum Beispiel tagtäglich ohnmächtig gefühlt und sich über seinen „unkontrollierten Schüler“ genervt, ohne über den Ärger hinauszukommen, wäre diese positive Entwicklung nie so zustandegekommen, sondern die Gefahren der Eskalation hätten wohl täglich, ja stündlich bestanden.

Literatur

Adler, A. (1912): Zur Erziehung der Eltern. In: Monatshefte für Pädagogik und Schulpolitik (Wien), 4, achtes Heft, S.225-235.

Adler, A. (1927/1972): Menschenkenntnis. Frankfurt am Main: Fischer.

Adler, A. (1929/1973): Individualpsychologie in der Schule. Frankfurt am Main: Fischer.

Adler, A. (1930/1976): Kindererziehung. Frankfurt am Main: Fischer.

Adler, A. (1930): Verzärtelte Kinder. Erstabdruck in Zeitschrift für Individual-psychologie, 5, 1980, S.177-181.

Adler, A. (1928): Kurze Bemerkungen über Vernunft, Intelligenz und Schwachsinn. In Adler, A. : Psychotherapie und Erziehung. Ausgewählte Aufsätze, Band 1, Frankfurt am Main 1982: Fischer, S.224-231.

Ansbacher, H. und R. (1982): Alfred Adlers Individualpsychologie. München/Basel: Reinhardt.

Birnbaum, F. (1932): Die individualpsychologische Versuchsschule in Wien. Zitiert nach Echle 1992, S.12f.

Bleidick, U. (1985): Individualpsychologie, Lernbehinderungen und Verhaltens-störungen. Berlin: Marhold.

Brühl, B., Döpfner, M., Lehmkuhl, G. (2000): Der Fremdbeurteilungsbogen für hyperkinetische Störungen (FBB-HKS) - Prävalenz hyperkinetischer Störungen im Elternurteil und psychometrische Kriterien. Kindheit und Entwicklung 9, S.115-125.

Echle, E. (1992) : Das Klassengespräch - ein möglicher Weg zur Demokratie im Klassenzimmer. Unveröffentlichte Diplomarbeit am Alfred Adler-Institut. Zürich.

Petermann, U./Petermann, F. (2001): Das aggressive Kind oder: Hilfen durch die Verhaltenstherapie. In: Winkel, R. (Hrsg.): Schwierige Kinder-Problematische Schüler. Hohengehren: Schneider, S.53-64.

Rüedi, J. (1992): Die Bedeutung Alfred Adlers für die Pädagogik. Bern: Haupt.

Rüedi, J. (1995): Einführung in die individualpsychologische Pädagogik. Bern: Haupt.

Rüedi, J. (2001): Das Kind mit unkontrollierten Verhaltensweisen. In: Winkel, R. (Hrsg.): Schwierige Kinder-Problematische Schüler. Hohengehren: Schneider, S.267-293.

Tymister, H. J. (1995: Stichwort Beratung. In: Brunner, R. und Titze, M. (Hrsg.): Wörterbuch der Individualpsychologie. München/Basel: Reinhardt, S. 59-63.

Wexberg, E. (1974) : Individualpsychologie. Stuttgart: Hirzel.

Wolff Metternich, T. et al. (2002): Prävention - PEP - Ein Präventionsprogramm für drei- bis sechsjährige Kinder mit expansivem Problemverhalten. In: Kindheit und Entwicklung 11(2), S.98-106, Göttingen, Hogrefe-Verlag.

 

 

 

 

 

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